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Thema: "Zaccaria Giacometti und seine liberalen Ideen für die heutige Schweiz"
Am 12. November 2013 fand sich eine
interessierte Zuhörerschaft - Studierende, Kenner von Werken Zaccaria
Giacomettis und sogar einer seiner ehemaligen Schüler - zum Liberalen
Gesprächskreis ein. Prof. Andreas Kley,
Inhaber eines Lehrstuhls für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte
und Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich, führte
mittels Bildern in das Leben und Werk von Zaccaria Giacometti ein - dank
Kenntnissen, die Andreas Kley sich in den letzten Jahren im Rahmen
seiner Forschung und eines Buchprojekts zum Zürcher Staatsrechtler
erworben hat. Das Buch soll 2014 erscheinen. Als Highlight des Abends
hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, die Giacometti-Bibliothek zu
besichtigen.
Zaccaria Giacometti: sein Leben und seine Rezeption
Zaccaria Giacometti, der aus Stampa (Bergell) stammende und der
bekannten Künstlerfamilie angehörende Rechtswissenschaftler, habe in den
Jahren seines Wirkens als Professor und Rektor an der Universität
Zürich wesentliche liberale Akzente in der schweizerischen
Rechtslandschaft setzen können. Sein literarisches Erbe sei heute
leider, wie Kley festhielt, mehrheitlich in Vergessenheit geraten. Heute
finde man seine Werke bezeichnenderweise auf den Flohmärkten in
grösseren Schweizer Städten.
Dies, obwohl nicht nur Giacomettis liberales Denken mehr Beachtung
verdienen würde (immerhin, F.A. von Hayek hat ihn in „Die Verfassung der
Freiheit“, Mohr Siebeck 2005, rezipiert, S. 134, 242, 283, 295, 300),
sondern auch seine Charakterzüge seien nachahmenswert gewesen: Seine
ehemaligen Schüler beschreiben ihn als toleranten, grosszügigen und
sachlichen Lehrer und Intellektuellen, der seine klare liberale Linie
auch im medialen Gegenwind der damaligen Kriegs- und Nachkriegsjahre nie
aufgegeben habe (als alle anderen Rechtsgelehrten geschwiegen oder die
rechtsstaatlich problematische Politik aus Bern sogar unterstützt
haben). Giacometti habe zudem nicht die Aufmerksamkeit um seine Person
und Verdienste gesucht. Aus diesen Gründen haben seine Schüler ihn
wahrscheinlich so geschätzt, und das Volk sei seiner Meinung
mehrheitlich gefolgt, so Kley.
Eine wichtige Rolle in seinem Leben habe auch die Kunst gespielt. Dies
sei wenig überraschend. Einige Verwandte seiner weitläufigen Familie
(u.a. Giovanni, Alberto und Diego) erlangten später grossen Ruhm als
Maler und Bildhauer. Sie haben Zaccaria Giacometti oft als nachdenkliche
Person porträtiert, die auf den Bildern meistens in Büchern oder
Zeitungen vertieft zu sehen sei. Einige wenige dieser Werke hängen in
der im Rechtswissenschaftlichen Institut aufbewahrten
Giacometti-Bibliothek aus der damaligen Zürcher Privatwohnung des
Staatsrechtlers. Das Künstlerische der Familie Stampa-Giacometti spiele
schliesslich auch in den juristischen Werken Giacomettis und im
Verhältnis zu seinen Studierenden eine Rolle, wie Kley ausführte.
„Katalog der Freiheitsrechte“ - zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus
Giacometti, Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Fritz Fleiner in Zürich,
machte eine bemerkenswerte Karriere bis zum Rektor der Universität. Wie
Fleiner stehe Giacometti für den Primat des Rechts über die Politik und
für den liberalen, demokratischen Rechtsstaat. Er habe sich zudem für
die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die verfassungsgerichtliche
Überprüfung von Bundesgesetzen stark gemacht, die noch heute durch Art.
190 BV ausgeschlossen ist. Auch das Spannungsverhältnis von Demokratie
und Rechtsstaat bzw. Liberalismus, damals noch nicht so dramatisch wie
heute, habe Giacometti in seiner Rektoratsrede 1954 bereits
angesprochen. Er habe in seiner Rede den rechtsstaatlichen
Freiheitsrechten den Vorzug gegenüber der Demokratie gegeben, und damit
die reale Gefahr erkannt, die von Mehrheitsentscheiden des Volkes für
den Rechtsstaat ausgehen kann. Das Schweizer Volk, so die Meinung
Giacomettis, werde aber nie seine Freiheit und damit den Rechtsstaat
abschaffen. Das passe nicht in die Empirie und Denklogik der Schweizer.
Ob Giacometti Recht behalten hat oder wird?
Die kantische Aufklärungsphilosophie ist in den Werken Giacomettis
allgegenwärtig (z.B. die individuelle Freiheit als Voraussetzung für die
menschliche Gemeinschaft und für den Staat). Der vernunftrechtlich
verstandene Freiheitsrechtekatalog und das negative Freiheitsverständnis
seien Ausdruck eines klassischen Liberalismus, wie er Mitte des 20.
Jahrhunderts kaum mehr vermittelt worden sei. Der Rechtspositivismus
habe mit (u.a.) Hans Kelsen in Österreich und in Deutschland eine
zentrale Rolle in der Rechtswissenschaft eingenommen, dem sich
Giacometti selber mehrheitlich auch nicht entzogen habe (mit Ausnahme
des natur- oder vernunftrechtlich verstandenen offenen Katalogs von
Freiheitsrechten). Zu seiner Freiheitsauffassung passe auch, dass der
Sozialstaat nach Meinung Giacomettis dem freiheitlichen Staat
unterzuordnen sei, wobei er ersteren nicht per se abgelehnt habe. Gerade
dieser Sozialstaat habe aber einen rechtsstaatlichen Schönheitsfehler,
wie sich in der Diskussion herausstellte. Seine rechtliche und faktische
Grundlage habe er nämlich in den Notstandsgesetzen der Kriegsjahre,
welchen Giacometti grundsätzlich die These der Illegalität
entgegenhielt. Abgaben, die im Hinblick auf den Krieg eingeführt worden
sind, seien - ganz in der Logik auch der heutigen Politik - nach Ende
des Krieges nicht rückgängig gemacht worden. Nicht nur die
extrakonstitutionellen Vollmachten des Bundesrates und die dringlichen
Bundesbeschlüsse unter Ausschluss des Referendums seien höchst
problematisch gewesen, vor allem auch die Verschleppung von
Volksinitiativen durch „Schubladisierung“ in den 1930er Jahren oder der
Ausschluss von gewählten Parlamentariern (in diesem Fall von Mitgliedern
der kommunistischen Partei) seien von Giacometti regelmässig in
Zeitungsbeiträgen öffentlich kritisiert worden. Das Bundesgericht habe
damals seine Aufgabe als Hüter des Rechts nicht wahrgenommen, indem es
sich ausserstande sah, gegen die Missbräuche vorzugehen. Schliesslich
habe Giacometti, wie Kant, die Pressefreiheit als Palladium der Freiheit
betont. Ohne die Freiheit, die „Freiheit aussprechen“ zu können, wäre
die Freiheit nicht mehr als ein leeres Prinzip.
Rückbesinnung auf liberale Werte
Die Qualität der staatsrechtlichen Werke Giacomettis sei einzigartig, so
Kley. Der Auffassung Giacomettis eines offenen Katalogs von
Freiheitsrechten haben sich das Bundesgericht und die herrschende Lehre
nicht angeschlossen. Im Gegenteil, das Bundesgericht habe durch die
Anerkennung eines positiven Freiheitsbegriffs die negativen
Freiheitsrechte ausgehöhlt, wie Robert Nef bemerkte. Das Verständnis von
verschiedenen Generationen von Menschen- und Grundrechten habe, so
Kley, zu einer Abwertung der negativen Freiheitsrechte durch
Positivierung geführt. Staatsrechtliche Bücher in der Tradition
Giacomettis (und Fleiners) wären in der heutigen Zeit nicht en vogue,
aber sie wären für die Rückbesinnung auf liberale Werte von enormer
Wichtigkeit. Sich gegen die Kräfte des herrschenden Zeitgeistes zu
stellen, hätte vielleicht gerade dem geradlinigen Zaccaria Giacometti
sehr gut gefallen!
Verfasser: Fabio Andreotti